Neuerscheinung 2023
Das Recht nicht zu lügen. Der Ex-Jesuit im autobiografischen Interview über sexuelle Heuchelei, Staatskirchentum und die akademische Diskurskrankheit, Europabuch Verlag, Berlin - Rom 2023, 500 Seiten. (Erste Rezensionen dazu bei Amazon.)
Erste Rezension von Daniel Bigalke
Einige Eckdaten
Geboren 17.09.1942 in Duisburg-Rheinhausen in einer kinderreichen Geschäftsfamilie.
Abitur 1962 am Städtischen Naturwissenschaftlichen Gymnasium Rheinhausen. Abiturrede als PDF
1962-64 Jesuiten-Noviziat in Burg Eringerfeld (Westf.)
1964-1967 Studium von Philosophie an der Hochschule für Philosophie SJ in Pullach bei München, mit Lizentiat abgeschlossen (Lizenziatsarbeit: "Intentio als Sinn bei Thomas von Aquin")
1967-1970 Repetitor an derselben Hochschule sowie weitere Studien in Philosophie, Germanistik und Psychologie an der Universität München
1970-1971 Studien am Hegel-Archiv der Universität Bochum (mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes)
1972 Promotion summa cum laude an der Universität Bonn mit der Hegel-Studie "Die Logik der 'Phänomenologie des Geistes'" (bei Prof. Klaus Hartmann), für die ihm der Geffrub-Preis 1973 der Universität Bonn verliehen wurde. Gerhart Schmidt war zweiter Gutachter.
1974 Diplom in Katholischer Theologie an der Philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt/Main.
1974-1977 philos.-theologische Aufbaustudien am Institut Catholique in Paris.
1975 Staatlich anerkannte Habilitation für Philosophie an der Philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt/Main (einstimmig), aufgrund der als „Meisterwerk" eingeschätzten Dissertation sowie des Skriptes zur ersten Vorlesung „Sozialphilosophie", das 1976 teilweise als Buch unter dem Titel „Reflexion als soziales System. Zu einer Reflexionstheorie der Gesellschaft" erschien, ebenso wie die Dissertation beim Bonner Verlag Bouvier.
1977 Verzicht auf die Jesuitenprofessur in Frankfurt/M. sowie auf eine Gastprofessur an der Universitas Gregoriana in Rom, aus existentiellen Wahrhaftigkeitsgründen. Seitdem als Dozent für Erwachsenenbildung, mit Forschungsaufträgen der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie einer Lehrstuhlvertretung an der Universität Bonn (Lehrstuhl für Kant-Forschung) sowie als Referent und freier Schriftsteller im Rheinland lebend.
Von Herbst 1997 bis Frühjahr 2002 Gastprofessor für Sozialökologie (Nachfolge Rudolf Bahro) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seitdem verstärkt Vorträge im In- und Ausland.
Seit 2001 verheiratet mit Christel Cleve-Heinrichs. Aus familiären Gründen teils in Duisburg, teils in Berlin lebend.
Näheres zur philosophischen Biographie
Die erste Veröffentlichung des 17-Jährigen erschien in einer Schülerzeitung. Sie trug die Überschrift: "Und die Vernunft verhüllt ihr Antlitz. Das Engagement Thomas Manns am politischen Denken zwischen den beiden Weltkriegen" (in der Schülerzeitung VOX der städtischen Gymnasien Rheinhausen, Oktober 1960 [PDF1 PDF2 PDF3]). Er ahnte damals selbst kaum, dass dieser kleine Artikel, aus einem Lehrgang zur politischen Bildung hervorgegangen, etwas Programmatisches für ihn haben sollte. Stand doch darin die angebliche "heitere Unabhängigkeit" (Th. Mann) des Geistes von der politischen und wirtschaftlichen Macht zur Diskussion.
Der 17-Jährige befasste sich leidenschaftlich mit der Kulturphilosophie Thomas Manns, also mit der erstaunlichen Wendung dieses zunächst unpolitischen Schriftstellers zu einem höchst verantwortlichen politischen Denker. Die Integration-durch-Differenzierung von religiöser Weltanschauung, deutscher Kultur, Politik und Wirtschaft war schon damals sein Thema anhand der einflussreichen, aber um Klarheit erst ringenden, vordemokratischen „Betrachtungen eines Unpolitischen" (1918). Der Anstoß dazu ging weniger vom Gymnasialunterricht aus als von einem außerschulischen Seminar „Das Engagement der deutschsprachigen Literatur zwischen den beiden Weltkriegen", worin Heinrichs gleichermaßen auf Ernst Jünger wie vor allem auf Gottfried Benn aufmerksam wurde. Die Lyrik des Letzteren zur Deutung des „modernen Ich" erwies sich als nicht minder prägend für Johannes Heinrichs als die kulturpatriotischen „Betrachtungen eines Unpolitischen" Manns. Gottfried Benn wurde von ihm als sogenannter „Abiturdichter" gewählt, neben Novalis, dem Verfasser der mystischen „Hymnen an die Nacht" sowie dem katholisierenden Romantiker von „Die Christenheit oder Europa" - alles Themen, die bis heute nichts von ihrer politischen wie kulturellen Brisanz verloren haben.
Zunächst interessierte sich der Gymnasiast mehr für unpolitisch-überzeitliche Philosophie (z.B. eines durch Josef Pieper vermittelten Thomas von Aquin und die Bücher Hans-Eduard Hengstenbergs) sowie für katholische Theologie. Der Katholizismus befand sich damals - unter dem charismatischen Johannes XXIII. - in einem hoffnungsvollen Aufbruch. Seine Abiturrede bezeugte bereits, dass er entschieden auf eine Einheit von Glauben und Denken, also auf eine spirituelle Philosophie, nicht auf Autoritätsglauben, setzte. In dieser Hoffnung trat er 1962 ins Noviziat der Jesuiten ein.
Die Philosophie von Johannes Heinrichs ist heute getragen von einer spirituellen Grundhaltung, die jedoch stets auf strenger logischer und systematischer Begründung besteht. Sein Werk überbrückt die oft gesehene Kluft zwischen rationaler Analyse und der Suche nach einem tieferen Sinn.
Wie Johannes Heinrichs damals glaubte, war der Jesuitenorden weder monastisch-weltflüchtig, noch in einer dogmatisch gebundenen geistigen Mittelmäßigkeit gefangen, sondern offen für die kulturellen und denkerischen Strömungen der Zeit. Diese Offenheit genoss er bis zu einem gewissen Grade während seiner philosophischen Fachausbildung von 1964-1967 an der philosophischen Hochschule der Jesuiten in Pullach bei München (mit Lizentiat) und den anschließenden Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter ebendort. Jedoch schon die Phase als Repetitor von 1967-70 wurden schwierig, weil sie den zum dialogischen Denken und Miteinander-Denken Erwachten über die in seiner Sicht vielfach halbherzige „transzendentale Scholastik" seiner Lehrer wie Johannes B. Lotz und Josef de Vries hinausführte. Vollends die 68-er Debatte bot ein buntes und stark herausforderndes Bild geistiger Strömungen.
Die Entwicklung der transzendentalen Dialogik
Im Zuge der philosophischen Grundausbildung bei den Jesuiten sowie Aufbaustudien an mehreren deutschen Universitäten und in Paris widmete sich Heinrichs zunächst dem Denken Thomas von Aquins (philosophische Lizenziatsarbeit), dann dem deutschen Idealismus (besonders Kant, Fichte und Hegel). Als Bonner Dissertation schrieb er den ersten durchgängigen analytischen Kommentar zur Logik von Hegels „Phänomenologie des Geistes". Mitten in der Arbeit daran war er 1971 vom Hegel-Archiv in Bochum nach Bonn gewechselt, weil die Bochumer Art der Beschäftigung mit Hegel zu einseitig philologisch geprägt war.
Die Hegel-Analyse war ihm im Grunde Vorübung für eigenes Weiterdenken. Auf den Schultern der klassischen deutschen Philosophen stehend, aber das dialogische Denken des 19. und 20. Jahrhunderts (F.H. Jacobi, L. Feuerbach; M. Buber, F. Rosenzweig, F. Ebner) einbeziehend, entwickelte er in seinen ersten wissenschaftlichen Artikeln (ab 1970) den Ansatz einer "transzendentalen Dialogik". Beide Strömungen, Transzendentalphilosophie und Dialogik, sind Relationsdenken. Die Ich-Es-Relation (Dialektik) ließ sich mit der Ich-Du-Relation (Dialogik) zusammen denken.
Dieser Ansatz entfaltete sich seit seinen ersten sozialphilosophischen Vorlesungen an der Jesuitenhochschule Sankt Georgen in Frankfurt (1975) zu der umfassenden dialogischen Reflexions-Systemtheorie. In ihr wurde und wird der Anspruch erhoben, die damals wichtige, aber ungelöst gebliebene Kontroverse zwischen Handlungstheorie (Jürgen Habermas) und Systemtheorie (Niklas Luhmann) zu einer Lösung und Synthese gebracht zu haben sowie gleichzeitig die Handlungs-Systemtheorie von Talcott Parsons durch das Reflexionsprinzip sowohl begründet wie entscheidend korrigiert zu haben.
Eine wichtige Ermutigung zur der konsequent reflexionstheoretischen Sichtweise - interpersonale, praktisch gelebte Reflexion als der Baustoff der Gesellschaft, aber auch aller anderen Handlungsbereiche - verdankt er ferner dem Hegelianer und Logiker Gotthard Günther (1900-1984), mit dem er seit 1971 korrespondierte und den er 1974 bei einem Gespräch in dessen Hamburger Wohnung persönlich kennenlernte.
Der Übergang zur philosophischen Unabhängigkeit
Heinrichs hatte im Jesuitenorden eigentlich alles erreicht - bis auf eine Absicherung durch eine Dauerprofessur. Eine solche wollte er aber nicht abwarten, da das seiner ethischen und spirituellen Motivation widersprochen hätte. Sein Austritt war keine Ablehnung der Spiritualität, sondern eine Konsequenz aus seinem tiefen Bedürfnis nach existenzieller Wahrhaftigkeit. Er wandte sich gegen eine institutionelle Heuchelei, die er weder mit seinem Gewissen noch mit seiner Philosophie vereinbaren konnte.
Er trat mit demselben Idealismus aus dem Orden aus, mit dem er eingetreten war - um der Freiheit des philosophischen und spirituellen Denkens willen. Die volle Tiefe dieser persönlichen und prinzipiellen Kämpfe entfaltet er in seiner Autobiografie "Das Recht nicht zu lügen" (2023).
1981 verließ er auch die katholische Kirche. Nach einem Zwischenspiel als Öffentlichkeitsreferent der Alt-Katholischen Reformkirche verließ er auch diese und jegliche kirchliche Institution.
Die philosophischen Durchbrüche nach 1977
Nach seinem Übergang zur geistigen Unabhängigkeit entwickelte Heinrichs seinen philosophischen Ansatz zu einer umfassenden Systematik weiter. Die erzwungene Unabhängigkeit wurde zum Nährboden für die Entwicklung seines eigenständigen reflexionstheoretischen Systems und begründete die Dringlichkeit seiner demokratietheoretischen Entwürfe.
1981 verließ er auch die katholische Kirche. Nach einem Zwischenspiel als Öffentlichkeitsreferent der Alt-Katholischen Reformkirche verließ er auch diese und jegliche kirchliche Institution.
Die Entfaltung des Reflexions-Systems
Was in den folgenden Jahren bis heute geschah, war die stringente und detaillierte Ausarbeitung seines frühen Ansatzes zu einer vollen philosophischen Systematik, aber ebenfalls zur wissenschaftlichen Grundlegung einer Handlungs- und Kommunikationstheorie, auf die hin die Soziologie, Soziallinguistik, sogar die Systemtheorie ausgerichtet wurden. Daraus ergibt sich ein wertorientiertes systemisches Demokratiemodell menschlicher Gesellschaft mit Folgen bis hin zu konkreten Verfassungsfragen.
Die Prinzipien sind:
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Eine reflexionstheoretisch verstandene philosophische Semiotik, die die Stufen von Handlung, Sprache, Kunst, Mystik/Religion systematisch unterscheidet und verbindet.
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Die Sozialphilosophie, die aus den vier Reflexionsstufen die vier Subsysteme der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Kultur, Grundwertsystem) und ihren inneren Zusammenhang begründet.
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Eine integrale Anthropologie/Psychologie, die über die heute üblichen Fragmentierungen hinausführt.
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Eine tiefgehende philosophische Geschichte, die die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins nachzeichnet.
Diese Gebiete wurden seit dem Austritt aus dem Orden in über 30 Büchern und zahllosen Aufsätzen ausgearbeitet. Es entstand ein philosophisches System im besten Sinn: kein starres Begriffsgebäude, sondern ein lebendiger Organismus sich gegenseitig erhellender Einsichten.
Das politische Engagement
Parallel zur theoretischen Arbeit entwickelte sich ein zunehmend konkretes politisches Engagement. Die Kritik am bestehenden Parteiensystem und die Vision einer "Revolution der Demokratie" durch eine Wertstufendemokratie wurde zum Leitmotiv. Zahlreiche Vorträge im In- und Ausland, die Gründung von Initiativen und die Ausarbeitung konkreter Verfassungsentwürfe zeugen von diesem Bemühen um praktische Verwirklichung der philosophischen Einsichten.
Die Wertstufendemokratie sieht vier gleichberechtigte Parlamente vor, entsprechend den vier gesellschaftlichen Subsystemen:
- Wirtschaftsparlament
- Politisches Parlament
- Kulturparlament
- Grundwerteparlament
Dieses Modell verspricht eine Überwindung der Machtkonzentration in den Händen von Berufspolitikern und Parteiapparaten zugunsten einer sachorientierten Demokratie kompetenter Vertreter aus allen Gesellschaftsbereichen.
Heinrichs publiziert als freier philosophischer Schriftsteller mit unverminderter Kraft bis heute weiter. Seine Werke fanden internationale Anerkennung: Das Buch "Revolution der Demokratie" wurde ins Bulgarische, das "Demokratiemanifest" ins Russische übersetzt. Bedeutsam sind die Übersetzungen "Integral Philosophy" (ibidem-Verlag, Stuttgart 2018, zusammen mit der Columbia University Press, New York), "Diamonds of Integral Philosophy" (Edition Prisma, Auroville/Indien) sowie "Value-levels-democracy" (Edition Prisma, Auroville 2018).
Reflexion als Lebensform
Heinrichs' philosophisches Schaffen ist keine akademische Glasperlenspielerei, sondern Ausdruck einer Lebensform. Die Reflexion, verstanden als bewusste Selbstbezüglichkeit in allen ihren Formen, durchzieht Denken und Handeln, Theorie und Praxis. Es geht um eine "gelebte Reflexion", die sich in der persönlichen Existenz ebenso bewährt wie in der Gestaltung des Sozialen.
Diese Biographie ist daher mehr als eine Aneinanderreihung von Daten und Werken. Sie zeichnet den Weg eines Denkers nach, der die großen Fragen der Philosophie nicht nur theoretisch durchdringt, sondern sie in seinem Leben und Wirken verkörpert. Ein Weg, der vom jugendlichen Sucher über den ordensgebundenen Gelehrten zum freien Philosophen und engagierten Weltbürger führt - und dabei doch immer derselben Grundintuition treu bleibt: der Einheit von Reflexion und Leben, Geist und Tat, Theorie und Praxis.