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Johannes Heinrichs:

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Gastfreundschaft der Kulturen versus
Multi-Kulti-Illusion
Der aktuelle Zwang zur Selbstbesinnung

Aus: Hartmut Koschyk, Rolf Stolz (Hg.)
«
30 Jahre Zuwanderung» Eine kritische Bilanz
OLZOG-Verlag 1998




Die Selbstbesinnung auf die Fragen deutscher Identität wird aktuell durch die neuen Gesetzgebungsinitiativen zum Ausländer- und Einwanderungsrecht erfordert. Hintergründiger wird sie spätestens seit 1993 (Mölln, Solingen usw.) von Schreckensnachrichten über Brandanschläge auf Häuser und Wohnungen «ausländischer» Mitbürger erzwungen und zugleich verdüstert, nachdem eine weniger düstere und freiwilligere Selbstbesinnung durch die Wiedervereinigung und den minimalistisch ausgeführten Auftrag zur Überarbeitung des Grundgesetzes kaum in Gang gekommen war. Viele Landsleute möchten unter dem Eindruck gewaltsamer Übergriffe auf Ausländer am liebsten von ihrer deutschen Identität ganz abrücken und sich aus dieser ihnen unangenehmen Schicksalsgemeinschaft davonstehlen. Von der parteiübergreifenden «political correctness»-Presse (einschließlich kirchenamtlicher Verlautbarungen) wird unterdessen die «multikulturelle» Gesellschaft beschworen. Die Rede von dieser ist jedoch von einer erschreckenden Unüberlegtheit gekennzeichnet: Soll sie Aufgabe des territorialen (nationalen) Primats einer Kultur und Nivellierung jedes Unterschiedes zwischen jeweils gastgebender Kultur und Gastkulturen bedeuten? Zu einer solchen kulturellen Selbstaufgabe wären freilich nur die Deutschen bereit – als fragwürdige Wiedergutmachung einer in den beiden Weltkriegen, besonders in der Nazi-Zeit, destruktiv gewordenen nationalen Überheblichkeit. Doch kann Überheblichkeit durch Selbstverleugnung bis hin zum Selbsthaß wieder gutgemacht werden?

Der holländische Schriftsteller Harry Mulisch bemerkte in einem Interview: «Meine Theorie ist, daß alle Völker, außer den Deutschen, einen Volkscharakter haben. (...) In den letzten 50 Jahren waren sie zerknirschte Masochisten. In den Jahren davor, da waren sie schreckliche Sadisten. (...) Von 1800 bis 1850 waren sie Romantiker, Dichter und Denker. Alle 50 Jahre ändert sich der deutsche Volkscharakter schlagartig. Und jetzt beginnt schon wieder eine neue Episode» («Psychologie heute», 1/1994, 39). Was mir hieran anstößig klingt, ist die Einebnung der Dichter- und Denkerzeit auf eine Episode – als läge dieses Potential nicht auf einer anderen Ebene als der von Episoden. Beherzigenswert ist der Vorwurf mangelnden «Volkscharakters». Gerade diesen, ein anderes, wenn auch fragwürdiges Wort für «kulturelle Identität», versucht der herrschende Mainstream den Menschen zugunsten einer rein kosmopolitischen Haltung oder eines bloß auf demokratische Gesinnung beschränkten «Verfassungspatriotismus» abzuerziehen.

Schon Hölderlin klagte, daß es die Eigenart der Deutschen sei, «blöde die eigene Seele zu leugnen» («Gesang der Deutschen»). Das war damals, als Deutschland eine Denkerwerkstatt mit Folgen für alle Bereiche der Wissenschaft und für die ganze Welt zu werden begann, worin Musik, Literatur und vor allem die Philosophie eine Höhe erreichten, die nur mit derjenigen des klassischen Griechenlands oder des alten Indien verglichen werden kann und wie diese letztgenannte bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Kultiviertere Ostasiaten wissen das besser als unsere Landsleute und betrachten Deutschland keineswegs nur als Wirtschaftsriesen (der inzwischen ins Wanken geraten ist). Richtig ist, daß Deutschland seine tiefere kulturelle Identität der philosophiefreien industriell-wirtschaftlichen Revolution im Bunde mit der unheilvoll dominierenden politisch-militärischen Sphäre weitgehend geopfert hat. Doch diese kulturgeschichtliche Betrachtung, bei der auch die Rolle der Kirchen kritisch zu beleuchten wäre, würde hier zu weit führen.


Das Problem deutscher Identität: ein Kulturproblem
Zumindest in der eigenartigen kollektiven Selbstverleugnung der Deutschen scheint eine Kontinuität zu bestehen, die sich periodisch in sadistischen Kompensationen Luft macht. Es gibt ein alle betreffendes Problem deutscher Identität, das heißt deutschen Selbstverständnisses und deutscher Kultur. Sonst würden wir uns nicht so schwer tun mit «Multikultur», was immer das unklare Schlagwort bedeuten mag.
Meine generelle These lautet: Es handelt sich heute weder um rassische noch im Grunde um wirtschaftliche noch um politische noch um religiöse Probleme, sondern um eine kulturelle und insofern nationale Identitätsstörung. Aus ihr folgt das Schwanken zwischen Masochismus (Verleugnung der Selbstidentität) und Sadismus, wie es in den Gewalttaten symptomatisch zum Ausbruch kommt.(1)


Sprache als «Währung» einer Kultur
Kultur ist nicht bloß Überbau, sondern prägt tiefgreifend das Alltagsleben – und sei es im Modus des Fehlens und durch die unartikulierte Sehnsucht nach kultureller Gemeinsamkeit wie bei den Skinheads. Sie stellt den verbindenden gemeinsamen Stil und Geist aller Lebensäußerungen dar. Gemeinsame Kultur ist der Rest an Gemeinschaftlichkeit in unseren weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften, jedenfalls auf über-familiärer, über-dörflicher (über-kommunaler) und über-regionaler Ebene. Das Territorium einer Kultur ist das Gebiet einer gemeinsamen Sprache. Sprache stellt die «Währung» einer Kultur dar wie für die Wirtschaft das Geld. So wie Geld allerdings nur das formalisierte Interaktionsmedium (2) aller Wirtschaftsvorgänge darstellt, nicht deren allesumfassenden Inbegriff, so ist auch Sprache nur das formelle Interaktionsmedium der Kultur. Diese als ganze reicht darüber hinaus weit ins Vorsprachliche und Übersprachliche hinein, wird aber durch die Sprache gebündelt.
Die Komplikation, daß Sprachgemeinschaften nicht mit deren politischer Organisation als Staaten zusammenfallen, entsteht nicht erst aus dieser Sichtweise, sondern ist real vorgegeben: Sei es, daß ein Staat mehrere Sprachgemeinschaften und Teil-Kulturen bündelt, wie etwa die Schweiz und Belgien, sei es, daß ein Sprach- und Kulturgebiet in mehreren politischen Staaten organisiert wurde und wird wie das deutsche Sprachgebiet.
Eine Definition der Kultur rein von der «politischen Kultur» her, wie es gegenwärtige «Meisterdenker» wie Jürgen Habermas vertreten, bedeutet Ignorierung der Kultur gerade in ihrem Eigenen.(3) Bei diesem und anderen politischen Denkern fehlt es an der systemtheoretisch tief begründeten Unterscheidung von Wirtschaft, Politik, Kommunikation/Kultur und Metakommunikation/Weltanschauung. (4) Eigenartigerweise ist es ein Theoriedefizit, das solche Theoretiker die Position vertreten läßt, die «Kultur» der politischen Institutionen genüge für die Identitätsbildung eines Gemeinwesens. Dem wird von «Kommunitaristen» wie Charles Taylor heute mit Recht widersprochen.
Der erwähnte Harry Mulisch sagt von sich: «Ich wohne zuerst einmal in meiner Sprache» (a.a.O., S. 41). Das sei seine Heimat. Meine These lautet allgemein und konsequenter: Nationale Identität ist heute bewußter als früher von der kulturellen Systemebene her zu definieren und nicht etwa bloß von der politischen her. Dieses Selbstverständnis deutscher Nationalität und von Nation überhaupt entspricht der größten deutschen Kulturepoche – doch nicht nur als etwas historisch Vergängliches. (5) Sonst wären die europäischen Nationen bald mit Recht nichts anderes als Untergliederungen eines europäischen Bundesstaates. Die Auflösung von Sprachregionen etwa in Europa (die tendenziell mit dem undifferenzierten Multi-Kulti-Gerede verbunden ist) wäre ein katastrophales Unding. Denn die von der Sprache her definierte Kultur-Nation bietet nicht allein einem Schriftsteller «Heimat» im kulturellen und zugleich regionalen Sinne.
Richtig bemerkt Fetsum Mehari in derselben Ausgabe von «Psychologie heute»: «Deutschsein, die nationale Identität, wird hierzulande viel zu eng per Abstammung definiert» (a.a.O., S. 45). Die Parole «Deutschland den Deutschen» ist gerade für ein nationales Identitätsverständnis von Sprache und Kultur her – wie es in Deutschland allen Abstammungsideen polemischer wie defensiver Art zum Trotz seit dem achtzehnten Jahrhundert eine spezifische Tradition hat – völlig inakzeptabel.
Ebenso wäre eine Selbstaufgabe der deutschen Kultur heute weder mehrheitsfähig noch irgendwie wünschenswert. Auf sie führt aber die übliche, unklare Multi-Kulti-Rede hinaus. Faktum ist, daß die Völker Europas und der Welt auch und gerade von Deutschland noch immer mehr erwarten als bloß die Funktion einer Wirtschaftslokomotive, Exportgüter, technisches Know-How und materielle Entwicklungshilfe. (Die Schließung von Goethe-Instituten wie etwa in Marseille und in Island erscheint von einem kulturell geprägten, nicht einseitig politischen und wirtschaftlich dominierten Nationalverständnis als besonders bedauernswert.)


Eine lebensnotwendige Unterscheidung
Die Unterscheidung von gastgebender (jeweils primärer) Kultur und Gastkulturen (jeweils sekundären Kulturen) stellt die Voraussetzung dar, unter der kulturelle Identität bewahrt und der andere zugleich gastfreundschaftlich aufgenommen werden kann. Mangelnde Unterscheidungsfähigkeit, also gedankliche Unklarheit, stellt derzeit das größte Hindernis internationaler Gastfreundschaft dar. In dieser Gedankenlosigkeit aber kommen unzählige Multi-Kulti-Redner mit Abstammungs-Nationalisten insgeheim, d.h. unbewußt und in der Tiefe ihrer Psyche, überein. Politiker und Journalisten, die ständig die falsche Alternative ethnisches oder rein politisches Staats- und Nationenverständnis einpauken, haben aktiven Anteil an dieser Vernebelung der kulturellen Dimension der Ausländer- und Einwanderungsfragen und an der Unmöglichkeit guter Lösungen innerhalb dieser falschen Alternative. Die irreleitende Alternative von ius sanguinis (Abstammung) und ius soli (territoriales Geburtsrecht) muß durch ein ius culturae vervollständigt werden: durch den territorialen Primat einer Kulturgemeinschaft, dem das individuelle Recht des Einwanderers oder Neugeborenen entspricht, unter gegebenen Voraussetzungen volles Mitglied der betreffenden Kulturgemeinschaft zu werden! Die oft inkriminierten letzten Spuren von Abstammungs-Denken im bisherigen deutschen Ausländerrecht beziehen sich auf solche Auslandsdeutschen, z. B. Rußlanddeutsche, die aus historischen Gründen an ihrer kulturellen Identität im Ausland festgehalten haben oder festhalten wollten (eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte deutscher Auswanderer, die sich normalerweise der Kultur ihres Gastlandes, z. B. der der USA, schnell assimiliert haben).
Das Prinzip einer gebietsweisen wechselseitigen Gastfreundschaft der Kulturen (nicht einer konturlosen Kulturvermischung) wird sich in Deutschland, in Europa und weltweit als das einzig tragfähige erweisen. Jeder, der im künftigen Europa der Nationen dauerhaft das nationale Territorium wechselt, sollte selbstverständlich bereit sein, sich Sprache und Kultur des Gastlandes anzueignen, auch wenn er seine Heimatsprache und Heimatkultur in Landsmannschaften zusätzlich weiter pflegt. Dialog im künftigen Europa setzt die Vielfalt unterschiedener Kulturen voraus, und diese sind mit einem regionalen Allerwelts-Eintopf unvereinbar. Sie sind gleichwertig, jedoch auf einem primären Sprachgebiet nicht gleichberechtigt (wie ein Gast nicht die gleichen Rechte hat wie ein Gastgeber). Dasselbe gilt für Menschen aus Uebersee, auch für Asylanten. In jedem Fall ist eine Klärung herbeizuführen, ob die einzelnen Gaststatus oder Einbürgerung und damit Aneignung der deutschen Sprache und Kultur als ihre eigene begehren.
Eine Unterscheidung zwischen «Integration» und «Assimilation» scheint dagegen irreführend, sofern sie nicht parallel zu dem viel wesentlicheren Unterschied zwischen zeitweiligem Gaststatus und Einbürgerung verstanden wird: Von Gästen kann nur eine Integration erwartet werden, die nicht mit Assimilation identisch ist. Von dauerhaften Staatsbürgern ist jedoch kulturelle Assimilation zu erwarten, die – dazu unten mehr – durchaus mit sekundärer Pflege der Kultur der Vorfahren zu vereinbaren ist.


Staatsangehörigkeit
Aus wirtschaftlichen Gründen kamen zum Beispiel Millionen von Türken in unser Land. Es ist nicht einzusehen, warum sie nicht bleiben sollten, wie es früher viele Polen und Italiener taten, die inzwischen Deutsche geworden sind – dies allerdings unter der Voraussetzung, daß sie bereit sind, eine primäre Loyalität zur deutschen Kultur zu entwickeln. Denn Deutschsein ist seit langem keine Frage der Abstammung mehr. Es ist unter der genannten Voraussetzung nicht einzusehen, warum man ihnen die Staatsangehörigkeit vorenthält. Nicht die quantitative Frage, wie viele Einwanderer unser Land verträgt, sondern die qualitative Frage, wieweit eine kulturelle Eingliederung möglich und gewollt ist, sollte bei einer neuen Einwanderungsgesetzgebung im Vordergrund stehen.
«Gastarbeitern», die ausschließlich aus ökonomischen Gründen in unserem Land bleiben, innerlich jedoch voll Türken oder Polen usw. bleiben, die sich nicht für deutsche Sprache und Literatur, Sitten und Lebensweisen interessieren, sollte dagegen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft gewährt werden. Ein Staat ist weder ein ökonomischer Betrieb noch ein bloß rechtlich-politisches Gebilde. Ist es eine wuenschenswerte, eine auch nur zu verantwortende Entwicklung, daß «Gastarbeiterfamilien» sich auf Dauer in kulturellen Ghettos abkapseln? In ghettoartigen Ausländerstadtteilen wachsen kulturelle, mit religiösen Fragen vermischte Probleme heran, die wir in einer religiös pluralistischen (wenngleich mehrheitlich über Gebühr von den christlichen Großkirchen geprägten) Gesellschaft überwunden glaubten!
Auch eine doppelte Staatsangehörigkeit, eventuell (unter ganz speziellen Voraussetzungen) für manche als Übergangslösung erforderlich, darf nicht zum Vorwand dienen, in Deutschland auf Dauer ausländische Ghettos oder Enklaven zu errichten. Der Sinn einer doppelten Staatsangehörigkeit für hier geborene Kinder ist von unserem Verständnis von Staat und Nation als Kultur-Territorien her nicht einzusehen. Sinnvoll erscheint dagegen eine Anwartschaft auf deutsche Staatsangehörigkeit, über die hier Geborene spätestens zum Zeitpunkt ihrer Mündigkeit entscheiden. Da ein Staat auch und nicht zuletzt Kulturstaat ist (genauer: die politische Organisation einer Kultur), gibt es in der Tat nicht nur politische, sondern kulturelle Loyalitätskonflikte, gerade im Blick auf Länder wie die Türkei, wo die Unterscheidung von Religion und politischem Staat, zu schweigen von Religion und Kultur, noch weniger akzeptiert und eingeübt ist als bei uns.
Darüber, daß ein pluralistisch-demokratischer Kulturstaat nicht mehr zugleich ein religiös einheitlicher Religions-Staat sein kann (weder christlicher noch islamischer noch jüdischer), wenngleich die pluralistische Gesellschaft ihre eigenen humanistischen Wertfundamente hat, braucht hier – zumindest in theoretischer Hinsicht – kein weiteres Wort verloren zu werden. Die Unterscheidung von Religion(szugehörigkeit) und nationaler Kultur mit ihren Sitten (z. B. Feiertagen) gehört zu den Voraussetzungen einer pluralistischen Demokratie. Auf der Ebene der kulturellen Sitten spielt das Mehrheitsprinzip notwendigerweise eine Rolle, nicht für die individuelle Religionszugehörigkeit und Religionsausübung, sofern sie dem privaten Raum angehört und nicht gegen das Grundgesetz verstößt.


Gebietsweise wechselseitige Gastfreundschaft der Kulturen
Die ursprüngliche kulturelle Identität von «Gastarbeitern» wird allerdings nicht einfach in die gastgebende Kultur hinein aufgelöst, sondern zugleich auch erhalten – aber als sekundäre Kulturen, die in dem Sinne sekundär sind, daß sie sich zusätzlich zur verbindenden Mutterkultur entfalten können, wie dies in den USA im Hinblick auf die Herkunftskulturen möglich war und ist (ohne daß die USA eine «multikulturelle» Gesellschaft wurden!). Wenn es beispielsweise das Gerichtsurteil gab, türkischen Mädchen könnte nicht zugemutet werden, an gemeinsamem Sportunterricht mit Jungen teilzunehmen, so fehlt hier genau die Unterscheidung von gastgebender Kultur, die im öffentlichen Leben tonangebend sein muß, und Gastkultur, die sich darüber hinaus in der privaten Sphäre entfalten kann, nicht aber zur gastgebenden Kultur in öffentlichen Einrichtungen konkurrieren dürfte.
Wohlgemerkt, nicht die individuellen Nachkommen von Ausländern sollen in einem Dauer-Gastzustand festgehalten werden. Die Gastfreundschaft bezieht sich vielmehr auf deren Herkunftskultur als kollektive Größe. Diese hat Gaststatus als sekundäre Kultur, nicht die einzelnen, die sich für Zugehörigkeit zur deutschen Kultur entschieden haben.


Unklarheit als Grund für Haß
Ein kollektiver deutscher Masochismus, der darin bestünde, den Anspruch einer verbindlichen Basiskultur auf deutschem Sprachgebiet aufzugeben, schlägt unvermeidlich in Sadismus einzelner um, wie wir ihn seit Jahren immer wieder erleben. Daß der Zusammenhang den meisten unbewußt bleibt, macht ihn nicht wirkungsloser. Die «Wiederkehr des Verdrängten» (Freud) bezieht sich bei einem Kollektiv auf verschiedene konträre und nur scheinbar zusammenhanglose Personengruppen: Unsere Intellektuellen und Wohlsituierten übernehmen derzeit mehrheitlich den Part der masochistischen Verleugnung der «eigenen Seele», obwohl gerade die Bildungsträger für deren zeitgemäße Weiterentwicklung zuständig wären. In unterdrückten Völksschichten und bei verzweifelt ihre individuelle wie kollektive Identität suchenden Jugendlichen kommt leichter ein Sadismus komplementär zur Erscheinung.
Natürlich müßte vertieft werden, woran deutsche kulturelle Identität über die Sprache hinaus festzumachen ist. Solch ein diffiziles Unterfangen – vergleichbar der Bestimmung eines jeweiligen Familien- oder Gruppen-geistes – ist in diesem Rahmen nicht möglich. Daß die Existenz einer solchen nationalen Kulturidentität jedoch in Frage gestellt werden kann, beruht bereits auf der anfangs erwähnten Identitätsstörung, die unsere Nachbarn weder teilen noch an uns schätzen.


Illusionen
Eine multikulturelle Gesellschaft ohne die Unterscheidung von primärer, gastgebender Kultur und Gastkulturen hat es geschichtlich nie dauerhaft gegeben, weil das Durcheinander verschiedener Sprachen und Kulturen entweder zur Vermischung in einer neuen Kultur (wie in den USA) oder zur Trennung führt. Auch in den scheinbaren, nicht gerade unproblematischen Gegenbeispielen einer politischen Bündelung verschiedener Kulturen, die auswärts ihre Schwerpunkte haben (Kanada, Belgien, Schweiz), bleiben die Sprachkulturen regional erhalten. Keiner gebe sich der Illusion hin, eine Kulturvermischung sei friedensstiftend. Sie ist kulturzerstörend (dadurch persönliche Identitäten zerstörend) und sät Haß. Wir sind gerade deshalb zuwenig gastfreundlich und integrationsfähig, weil wir auf der anderen Seite unsere Identität als Kulturnation verleugnen. Aus Nicht-Verleugnung ergeben sich allerdings realistische (in Frankreich und England fraglos akzeptierte) Ansprüche an die zu integrierenden Gastarbeiter und Asylanten.


Internationale Multikultur
Paritätische Begegnung nationaler Sprachkulturen hat ihre berechtigte Bedeutung auf internationaler Ebene. Multikultur haben wir Europäer vor allem auf europäischer Ebene einzuüben, doch als Vielfalt mit sich identisch bleibender, einander in Freundschaft und Gastfreundschaft begegnender Kulturen. Die Europäer würden etwas Einzigartiges aufgeben, wenn sie kulturell «gleichgeschaltet» zu «Vereinigten Staaten von Europa» würden im selben Sinne wie die USA.
Da die Zerstörung der regionalen und nationalen kulturellen Identitäten dem berechtigten Interesse aller Kulturnationen und den Gefühlen der Menschen widerstrebt, sät die undifferenzierte Rede von «Multikultur» auf Kosten der nationalen Kulturen jetzt schon Unfrieden – mehr bedingt durch einheimische Gedankenlosigkeit als durch bewußtes Doppelspiel ausländischer Einwanderer. Ein Loyalitäts-Doppelspiel wird diesen geradezu nahegelegt, solange auf deutscher Seite kein bewußtes Konzept von kultureller Gastfreundschaft vorhanden ist.


Ausblick: Festung Deutschland und Europa?
Im Vorhergehenden sollte deutlich geworden sein, daß die Frage, wie viele Menschen aus Osteuropa oder aus der Dritten Welt wir in unser Land aufnehmen, mit der Frage der Multikulturalität so zusammenhängt: Je stärker unsere nationale Identität ist (was mit Überheblichkeit nichts zu tun hat), um so mehr Menschen können wir im Bedarfsfall oder Notfall integrieren. Kultur ist ein beseelendes Organisationsprinzip, von Blutsfragen völlig loslösbar, eher noch mit den Fragen des Bodens, des geographischen Heimaterlebens, verbunden. Nur vermittelt über seine kulturelle Identität kann unser Land sein Wirtschaftspotential in den Dienst der Völkergemeinschaft stellen und notfalls noch viele Menschen aufnehmen, ohne sich selbst aufzugeben. «Das Boot ist voll» ist philisterhafter Egoismus, solange die von uns mitverursachte Not in Osteuropa und in der Dritten Welt nicht anders gelindert wird und solange die Völkergemeinschaft nicht stark genug ist, Menschenrechtsverletzungen wirksam zu sanktionieren. Es ist allerdings kurzsichtig zu glauben, wenn wir uns nur noch staatlich-rechtlich und wirtschaftlich definierten, würden wir unserer Verantwortung für Armut und Hunger in der Welt gerechter werden.
Viele der bisherigen «Ausländer» als Personen dürfen bei uns nicht länger bloß Gäste bleiben. Doch ihre jeweiligen Kulturen können und sollten unbegrenzte Gastfreundschaft als (im wertfreien, territorialen Sinne) sekundäre Kulturen bei denen genießen, die selbst eine starke kulturelle Identität haben. Diese Identität, mag sie auch über die Sprache hinaus schwer definierbar sein, als Angehörige einer der noch immer angesehensten Kulturnationen der Welt zu verleugnen, stellt einen unbewußten, krankhaften Masochismus dar. Dieser entfaltet in der Tat keine Integrationskraft, mag man die «multikulturelle Gesellschaft» noch so unklar und illusorisch beschwören.


Anmerkungen

| 1
Den tiefenpsychologischen Zusammenhang zwischen masochistischem Selbsthaß und Fremdenhaß thematisierte schon im historischen Augenblick der deutschen Wiedervereinigung Rolf Stolz «Der deutsche Komplex. Alternativen zur Selbstverleugnung», Erlangen - Bonn - Wien 1990. Er zieht sich ebenfalls als roter Faden durch das einschlägige Buch von J. Heinrichs «Gastfreundschaft der Kulturen. Multikulturelle Gesellschaft in Europa und deutsche Identität», Essen 1994

| 2
Die hier angedeutete Unterscheidung der formellen oder formalisierten Interaktionsmedien (Geld, Recht, Sprache, Kult/Dogma) von Interaktionsbereichen überhaupt (Macht, Liebe, Vertrauen usw.) vermißt man bei N. Luhmann wie J. Habermas, die in Anschluß an T. Parsons mit dem Begriff «Interaktionsmedien» operieren.

| 3
Ich beziehe mich insbesondere auf den Beitrag von Jürgen Habermas «Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat», in: Charles Taylor et al. «Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung», Frankfurt/ Main 1993

| 4
Vgl. zur Bedeutung dieser «Viergliederung des Sozialen» und zur unheilvollen gegenwärtigen Dominanz des ökonomischen Subsystems näher: J. Heinrichs «Sprung aus dem Teufelskreis. Logik des Sozialen und Natürliche Wirtschaftslehre», Wien 1997

| 5
Vgl. J. Heinrichs «Nationalsprache und Sprachnation. Zur Gegenwartsbedeutung von Fichtes Reden an die deutsche Nation» in: «Kosmopolitismus und Nationalidee (Fichte-Studien 2)», hg. von Klaus Hammacher et al., Amsterdam 1990