Prof. Dr. Johannes Heinrichs
Integrale Philosophie

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Literarisches / 5. Dein Weinen über der Morgenzeitung

RHEIN-RUHR-MITTERNACHT

Musikvolle Dissonanzen der Pfeifentöne
im Intervall einer halben Sekunde
der Orgelpunkt summender Räder die Schöne
der Ruhrgebietmitternachtsstunde.

Bisweilen schleicht eine Limousine
das Pflaster scheint gelb vom Abblendlicht
einer mit Hut in der Führerkabine
ein Walzenbruch etwa Sonderschicht.

Jetzt wieder ein Hochofensamenerguss,
Paroxysmus der Himmelsröte
das ewige Abendrot dort am Fluss.
Vom starren Wald der Schlote dringt Getröte.

In hohem Stockwerk eine helle Kammer:
vielleicht nahm jemand die Bibel?
Und manchmal horch ein Rufen wie aus Jammer.
Hochrot am Horizont glänzt Homofabers Banner,
beschwichtigt flackernd die enfants terribles.

                                     (Erstlingsgedicht, 1960)

 

 

 

WIE SOLL MAN DA SINGEN

Wie soll man da leben?
Man soll ja auch nicht.
(Gottfried Benn)

Immer noch fehlen die Lieder
wenig Jahre nach Bombennächten
und vielerorts dauern sie fort -
wie soll man da singen?
Man soll ja auch nicht
wie damals schon jemand sang.

Aber was sein muss
in unserem Überfluss
Wohlstandsstätten über vergessenem Schutt
Dank Hoffnung Angst neue Liebe -
Unnötiges wird notwendig
doch wieder klingen
neuverwandelt
aus Überflussnot.

                                    (1969)

 

 

 

ALLERSEELEN VON ST. LAURENT DU PONT

In der Nacht zum 2.11.1970 fanden 144 junge Menschen beim
Brand eines Tanzlokals zu St. Laurent du Pont den Tod.

Und wir sangen
im Spiel mit dem Feuer
wie meistens
wussten wir nicht
im Selbstvergessen im Tanz
im Weltvergessen im Spiel
fragt die Umarmung nicht weiter
hinter Wänden und Maskenmächten
den Gott unserer Liebe.

Das Feuer kam
wie großes Erinnern.
Flucht in die einsame Angst
kaum siegender Kuss
Panik ohne Entzücken.

Und Wiederfinden im Licht
und höheres Selbstübersteigen
und über die Ahnungen
seliger Tanz ?
Gefragt ist
wer überlebte.

                     (1970)

 

 

 

EINE HOCHZEIT AM STROM

Zu sagen bleibt
was an Dingen
allein sich sagt

und sperrt sich nicht
schwer gegen Worte
im Gegenteil – es schwebt

und schwebt im Gegenteile
den nichtssagend nichtigen Dingen
wie Ort und Zeit wie

sagen wir damals und heute
die alte Kirche am Strom
wo man heute sang

unter Küssen die Ringe tauschte
und schwieg – vor allen Dingen
heute und dort am Strom. 

                    (1970)

 

 

 

TRAUER

Ein Erdbeben um die Wurzeln
und das Erzittern stürzt
bis in die Gipfel
sturmgewohnte
und mancher an hohe Blitze.

Inne bleibt unvergessen der Stoß
dem vielerinnernden Erdreich
Wurzeltiefe unserer Kraft
stets unerschöpfter
im lichteren Wehen.

Schauer tränken in Schweigen
den durchschütterten Grund
spaltenschließend –
heilender Tränenwein
unter Sang und Klang. 

                 (1970)

 

 

 

STIMME DES ZEITGEISTES

Sehr pathologisch
dein Weinen über der Morgenzeitung
versteh die Politik
ist eiskalt
hauptsächlich Weltwirtschaftskalküle
mehr nationale noch zugegeben
und der Zusammenbruch des Redners
mit seiner Sorge um Deutschland
medizinisch ganz simpel.

Glaub der Psychopathologie
du durchschaust jeden Freitod
erst recht diesen klaren Fall
und fast alles
was vor Gericht kommt
und sicher kommen wird -
und wie durchaus irrational
dein Verhalten
bedenklich fast.

Nimm für die Morgenandacht
dein bewährtes Gesangbuch
oder Goethe für jeden Tag
auch andere Lyriker tun's
aber besser die rationalen
mit politischem Engagement
verstehst du
Engagement
links oder rechts.

Von der Bibel
rate ich ab wiederum
jedenfalls ohne den Papst.
Die spricht so ungeschützt naiv
von Geldleihen ohne Zins
zum Beispiel
von Gott oder Mammon
so schroff alternativ
so gänzlich fremd dieser Welt.

               (1970)

 

 

 

EIN STÜCKCHEN OBERFLÄCHE

Ein Stückchen Oberfläche
unserer vielberedeten Erde
vertraut nun lieb und tief
schamhaftes Tal
wo die Vielrede haltgemacht
ob schon ihrem Zugriff offen liegen
Äcker und Wälder
die Wiesen
samt ihrer Heimlichkeit.

Längeres Bleiben nähme sie euch
zög euch hinein in das große Zerreden.
Sprachlos Vertrautes
würde geheimnislos fremd.

So scheiden wir
wie Freunde am Mittag
in Schweigen. 

                          (1971)

 

 

 

HERZ-JESU-FEST BEIM ZAHNARZT

Das Terroristenfahndungsplakat
beim Zahnarzt:
sechzehn Unsterbliche.
Lasset uns beten
Patienten wir und
Sie Herr Doktor
für soviel Hoffnung Sehnsucht
Liebe und Frustverdrehtes.
Mein Gott
du Christenheit
erbarme dich ihrer
deiner wie ihresgleichen
in Trotzdemgedanken.
Was soll sonst
der Singsang
vom Herzen Jesu?

                   (1978) 

 

 

 

UNTERDRÜCKTES

Von Liebe war nicht die Rede
wo es ging um sie
um die Brücke von Mund zu Mund
von Kopf zu Herz
von Herz zu Kopf
von Lied zu Lied
von Glied zu Glied
den spielend gespannten Körper
aus zweien
einsturzbedroht
durch Kirchen-Staats-Bomben.
Statt singen das Lied überm Land
wurde verhandelt
ob wir uns nützen
nicht ob wir stützen
einer des anderen kühnen
gemeinsamen Bau.

                    (1980)

 

 

 

ALLEIN DEN WORTEN KANN ES NOCH GELINGEN

Was helfen aber Worte
wo Waffen sprechen?
Sie sprechen auch schweigend
nach Männerart:
Wehe – sonst knallt's!
Drohschweigen Totschweigen
dazwischen die Inflation von Wörtern
um nicht zu sprechen.
So versteht man sich seit Jahrtausenden
unter Männern.
Die Worte den Weibern und Kindern
Schwulen Kabarettisten Reportern Poeten.

Noch stehn die Mauern
„sprachlos und kalt
im Winde klirren die Fahnen"
über lautlosen Arsenalen.

Meine Herren
jetzt einmal aufgepasst:
die Zeiten änderten sich.
Allein den Worten kann es noch gelingen.
An die Front
ihr Wort- und Verhandlungskünstler
ihr vertrauensdurstigen Softies
an die sanfte Front
ihr Poeten!
Rettet uns aus dem waffenklirrenden Schweigen.

Führt die gewaltsamen Messer
mit der Genauigkeit ihrer jüngsten Raketen
und unserer ältesten Träume. 

(Bonn, am 22. November 1983,
Abschluss der Nachrüstungsdebatte)

 

 

 

STEPPENWOLF

In ihren Lesebüchern steht:
Bitterarm war der Poet
ein Nichtsnutz derweil
fiebernd beschäftigt
allgemein zu bereichern.
Belächelt war er bis zum Sterben
und jener Denker spann für sie
darüberhinaus.

Sie schwärmen vom grausamen
im Nachhinein nicht wahr
kaum zu fassenden Schicksal.
Romantik des Steppenwolfs
Unter einverständigen Bürgern
Und merkwürdig kalt bleiben sie
wenn einer lebendig unter sie tritt
die Zähne schüchtern verbergend
unterm verbindlichen Lächeln.

Immer dasselbe
sagen sich beide Seiten
überall immer der Mensch
und meinen dasselbe
bis zum Verrecken
nicht. 

                  (1986)

 

 

 

WAHLTAG

Deutschland wählt heute

CDU, SPD und dergleichen.

Ich wähle

das bessere Deutschland

das grüne Glück das

herüberschimmert

vorleuchtet irrlichtert oder

wie immer

mich heimsucht

unter Geisterstimmen

erregend heimlich

ein neues Du. 

       (1987)

 

 

 

VOR DER WARTBURG

In derselben Warteburg
wie Meister Luther sitz ich
und kann nicht anders
als warten
dass auch mir ein Gott helfe
Amen
und sich selbst helfe
gegen Kaiser und Päpste
gegen Gift und Schwert
gegen geschändete Bibel und Grundgesetze.

Triumphkreuz des Burgturms
blaues Fahnentuch mit Europas Sternen
ehren die deutschen Meister kaum.
Schwarz-Rot-Gold scheint vergessen.
Auf der Sängerwiese herrscht was für Stille?
Verdruckstes Sehnen brütet
dass Sein Reich doch noch komme
und allen zum Recht verhelfe
die Mammon und Lüge verschlangen
oder in die Warteburg zwangen -
für wie lange noch
Meister der Meister? 

                                 (1988)

 

 

 

AUFS ALTE JAHRTAUSEND

Die Stelle des Übergangs ins neue Jahrtausend
bleibt auch noch zu finden.

Der Worte sind genug gewechselt
Im schwindsüchtigen Jahrtausend.
Wir ersticken in Feuilletons
süßem Datenbrei schriftlich wie bildlich
sorgfältig auf den neuesten Stand gebrachten
modedesignten Jahrtausendlügen.
Zuviel bezahlte Schönredner
gegen allen Verdacht von Widersinn.

Ein paar redliche Scharfsinnsucher
hoffnungslose Idealisten
halten das Arme-und-Reiche-
das Macht-und-Ohnmachts-Spiel nicht mehr an
mit der versagenden Kraft
ihrer nackten Gedanken und blanken Wut.

Da muss jemand kommen
der handelt
ein Meister aber in Großformat diesmal
aber ganz von innen
aber mitten aus unserem heulenden Elend
und schwach noch erinnerter Sehnsucht. 

                                       (1999)

 

 

 

AM PLATZE SEIN

Wünsch mir nur dies:
am Platze zu sein
wo ich hingehöre jeweils
und zu der Zeit
wo es not tut.
Da liegen die Worte all zungenbereit
die Gesten machen zum Zeichen mich
ganz und von allein
ob auf zentraler Demo
oder im Tête-à-tête
immer in jedem Fall konspirativ.

Wünsch dir nicht minder
dieselbe Instinktgnade
da zu sein an Ort und Zeit:
ganz inkarniert.
Dort ist es
wo wir uns sicher treffen
und sei es von den entferntesten Orten der Welt
unberechenbar regelmäßig
in aller Freiheit
im geistbewehten Zuhause
immer in jedem Fall konspirativ.

(2006) 

 

 

 

Verteidigung des Wolfes gegen die Lämmer
anlässlich seiner Enzyklika über die Liebe (2007)

seht in den spiegel: feig,
scheuend die mühsal der wahrheit,
dem lernen abgeneigt, das denken
überantwortend den wölfen,
der nasenring euer teuerster schmuck,
(Hans-Magnus Enzensberger,
Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer.)

Kritisiere uns keiner den Papst.
Ist er ein Deutscher doch jetzt.
Hier kritisiert man zwölf Jahre Barbarei.
Das ist für Jahrhunderte Vorwand genug
um Jahrtausende Repression zu vergessen
in Sachen Liebe
soziale Gerechtigkeit und dergleichen
vom Geschlecht ganz zu schweigen.
Die Beichtstühle gegen Selbstbefriedigung
vor allem gegen sie und den zur Zeugung unnötigen Verkehr
geschweige unehelichen
wurden stillschweigend geschleift.
Die diskreteste sexuelle Revolution aller Zeiten
ohne den klerikalen Missbrauch zu ändern.

Die Hexen wurden inzwischen als typisch deutsch
und nur vom weltlichen Arm gemartert erkannt.
So die evangelische Amtshilfe aus Berlin.
Die Inquisition wenn es je eine gab
war im Grunde ganz deutsch
wie sich jetzt endlich zeigt.
Ließ der letzte Inquisitor doch
alles blutige Werkzeug ausdrücklich fallen und
wurde zum deutschen Papst.

Er bewies sogar Mut zum Diskurs
mit dem deutschen Scharlatan Haberfrust.
Ihm wies der päpstliche Musikant
den möglichen Weg aus religiöser Unmusikalität.
Unmusikalisch oder päpstlich
ist hiermit die Alternative
und diese sich abstoßenden Weltmächte
ziehn sich prächtig ergänzend an
verständnisinnig auf Machtbasis.

Kritisiere uns keiner den deutschen Papst
im Namen von Aufklärung Gerechtigkeit Liebe
Abschaffung von Privilegien gar
im besten Konfessionsstaat
den es je gab auf deutschem Boden
seit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.
Was war das auch gegen die heute noch blühende
unfehlbare Rechthaberei global?
Heiliges Römisches Reich deutscher
Anti-Befreiungs-Theologie.
Das stellt selbst das Kapital in den Schatten.
Betrifft diese Geld-Weltkrake doch
bloß indirekt das Heilige selbst.
Hier aber geht es direttissime um Herrschaft
über Gewissen und Seelenheil
und unser aller Sehnsucht.

Lass deine hyperkritischen Hirnfinger
doch wenigstens dies eine Mal unten
vor dieser einzig noch heiligen Herrschaft
und nenne diese nur diese eine nicht
Heuchelei und unfehlbare Rechthaberei
wo sie doch so schön
so wunderschön kenntnisverdrängend
alles selbsterzeugte Leid verleugnend
geschichtsvergessen beansprucht
den immer schon schnurgeraden Kurs
der sonst uns allen so mühsam verschlungenen
der ausgebeuteten Liebe der Menschen
mit ihren Ängsten Opfern Wirren
mit ihrem heiligen
auch von päpstlichen Schreiben
ganz unausrottbaren Sehnen. 

                                       (2007)

 

 

 

 

 

 

MEIN SCHWARZWEIßROTGOLDENES KLAVIER
(während es erstmals für mich gestimmt wird)

                                  (Vgl. Mein Klavier in Themenkreis 1)

Altehrwürdiges neues Klavier
Jahrhunderte altes Europa in Gusseisen Holz
und hundertzehn Jahre deutscher Hauptstadt darin.
Hof-Piano-Forte mit Oberdämpfung
Dämpfung durch Obrigkeit.
Überstrichen wurde das Feierschwarz
aus Kaisers Zeiten
mit sinnlichem Hippie-Altrot
aber schludrig aufgetragen.
Was hast du überstanden
mein neuer Spielgefährte!

Hauptsache du kommst neu zum Klingen
nach den kolossalen Wechselfällen
nach tiefgefrorenen Unterständen
möge alle Verstimmung vorübergehen
möge Deutschland nicht scheitern
seine Musen trotz alledem nicht erlahmen
möge ich spielen lernen auf dir fast
wie auf der geliebten Sprache
die über diesem Land
immer noch heiligt und feiert
immer noch als ein großes Lied.

Spielen auf dem Schwarz-Weiß
der Tastengedanken
auf angegrautem Elfenbeinweiß
zwischen Schwarz und Rot
herausspielen wieder
auf dem ehrwürdigen Körper
deutscher Geschichte
mit ungelenken Fingern
mit fast ermüdeter Stimme
das unaussprechliche Gold.
Singen vom längst nicht erschöpften Ermüden
von einem Seelengeheimnis
das die Meister uns mögen enthüllen.

                                      (2012)